Im Einsatzrucksack hat neben dem AKIK-Rettungsteddy und Kerzen noch vieles mehr Platz. „Die Kirche gehört dorthin, wo die Menschen in Not sind“, formuliert Christine Zahradnik ihr Credo, „aber die akuten Notsituationen, gerade wenn jemand verstorben ist, geschehen oftmals zu Hause oder auch mal auf der Straße.“ Diese seelsorgerische Betreuungslücke war ihr schon in ihrer Zeit als Gemeindepfarrerin bewusst, denn sie erfuhr erst dann vom Tod eines Menschen, wenn schon viele Stunden bis Tage vergangen waren. „Da zumeist weder Rettungskräfte noch Leitstelle wussten, welcher Pfarrer zuständig ist, war es kaum möglich, direkt verständigt zu werden – außer zufällig, wenn einen jemand kannte und informierte. So habe ich zu den betroffenen Angehörigen immer erst viel später Kontakt aufnehmen können.“ Ein „Aha-Effekt“ sei es daher gewesen, als sie in den 1990er- Jahren mit der Notfallseelsorge in Berührung kam: „Das füllte für mich genau die Lücke aus, in die ich mit meiner Gemeindeseelsorge nicht hinkam.“ Seit zwei Jahren nun leitet sie die ehrenamtlichen Notfallseelsorgesysteme im Main-Taunus-Kreis und in der Wetterau und kann Menschen in akuter Not ein paar Schritte lang begleiten. Dass sich in diesen Teams so viele ehrenamtlich engagieren, erfüllt sie mit Stolz und gibt ihr zusätzlich Antrieb. „Der Glaube und das Gebet waren schon immer wichtiger Teil meines Lebens, und in dem Beruf als Pfarrerin kann ich das ideal miteinander verbinden. Da ich zudem gerne mit Menschen zusammenarbeite, ist meine jetzige Tätigkeit ein großer Glücksfall für mich.“ Zu den Personen, die sie besonders geprägt haben, gehöre der Pfarrer, der sie konfirmiert hat, denn bis dato sei sie keine große Kirchgängerin gewesen: „Damals entdeckte ich aber, dass es mir wichtig ist, mich in der Gemeinde einzubringen. Letztlich hat er mir den Weg zur Mitarbeit in der Kirche und zum Theologiestudium eröffnet.“ Nicht nur in der Auseinandersetzung mit Fragen und Problemen des Lebens sieht die 57-Jährige inzwischen eine Begegnung mit Gott, sondern auch wenn biblische Texte, die ihr erst mal „störrisch“ erscheinen, irgendwann einen Sinn ergeben und überraschend einen Zugang eröffnen. Oder wenn sie Dinge neu hört, anders versteht und eine gewisse Relevanz entdeckt: „Ich bin überzeugt, dass er mein Denken und Lesen führt und sich gerade in auch ‚dunklen‘ Texten zu erkennen gibt.“ Ihr Glaube habe sich verändert und sei mit ihr gemeinsam „erwachsen“ geworden: „Heute weiß ich, dass Gott nicht einfach der liebe Gott des Kindergebetes von einst ist, sondern ich ihn auch anders erlebe: fern, unverständlich, finster.“ Für Zahradnik ist er dennoch immer dabei: „Ich vertraue darauf, dass er in jeder Situation mitgeht und ansprechbar ist, auch wenn ich es nicht spüre.“ „ES GEHT UM DEN MENSCHEN VOR MIR“ Dennoch hat auch sie Begegnungen erlebt, auf die sie hätte verzichten können. Momente, in denen sie mit Vorurteilen konfrontiert und abgelehnt wurde, sich hilflos und diskriminiert fühlte. „Aber letztlich gehören auch diese zu meinem Erfahrungsschatz und haben mich nicht nur sensibler, sondern auch zu der gemacht, die ich heute bin. Sie lehren mich umso mehr, wie wichtig es ist, anderen vorurteilsfrei entgegenzutreten.“ Eine Einstellung, die gerade in der Notfallseelsorge ganz wesentlich ist, denn in Einsätzen müssen viele unterschiedliche Menschen betreut werden, ohne dass persönliche Befindlichkeiten dem im Wege stehen dürfen. Das eigene innere Bewertungsmuster genau zu kennen und davon Abstand zu nehmen, sei das Geheimnis, um sich mit voller Kraft um die Betroffenen kümmern zu können: „Wenn wir ihnen mit offenem Geist entgegentreten, dann erleben sie, dass ihre Würde unantastbar ist, egal, wie ihre Lebensumstände gerade sind.“ Für die Pfarrerin ist daher klar: „Im Mittelpunkt steht der Mensch vor mir.“ Fremden zu begegnen, die gerade vielleicht die schlimmsten Momente ihres Lebens ertragen müssen, und dabei deren Bedürfnisse zu erkennen und ihnen gerecht zu werden, erfordert jedenfalls ein hohes Maß an Nächstenliebe und Empathie. Fähigkeiten, die das etwa 50-köpfige Team im Main-Taunus-Kreis, zu dem auch die Autorin gehört, besitzt. Ehrenamtliche Kräfte aus den verschiedensten Berufen, aber mit ähnlicher Hingabe zu dieser herausfordernden Tätigkeit, sorgen dafür, dass rund um die Uhr mindestens zwei Notfallseelsorger sofort abrufbar sind. Im vergangenen Jahr wurden immerhin 135 Einsätze geleistet und dabei über 500 Personen betreut – zumeist in den eigenen vier Wänden, denn häusliche Todesfälle, ob durch Krankheit, Unfall oder Suizid, machen den größten Anteil der Alarmierungen aus. Auch Verkehrsunfälle, Vermisstenfälle, Gewaltverbrechen oder Brände lösen einen Einsatz aus, oder es werden – gemeinsam mit Polizeibeamten – zeitnah Todesnachrichten an Angehörige überbracht. Beinahe jedes Mal begegnen die Notfallseelsorger dem Tod, der sich in vielerlei, oft schrecklichen Facetten präsentiert. Selbst wenn er ein gnädiges Gesicht zeigt, bringt er für die Nahestehenden Leid und Trauer mit sich.
STORY 30 | 31 „Je häufiger ich mit dem Tod konfrontiert wurde, umso mehr Bedeutung bekamen für mich die Texte, die mit Auferstehung und der Hoffnung auf Gott zu tun haben. Dass der Tod nicht das letzte Wort über uns ist, versuche ich denen, die ich in diesem Moment begleite, zu vermitteln“, beschreibt Zahradnik. „Das wird in solchen Begegnungen nicht immer ausgesprochen, aber wenn ich mit dieser Haltung in ein Gespräch gehe, nehme ich eine Hoffnung mit, dass das noch nicht alles gewesen ist.“ Auf Menschen zu treffen, die mit ihr auch über das Leben reden, habe „einen Schatz an Eindrücken“ bei ihr hinterlassen. „SIE SIND EIN GUTER MENSCH“ Erlebnisse, die auch jeder Notfallseelsorger gut kennt. Wie sich – angesichts des Todes – innerhalb der kurzen Zeit, die man vor Ort ist, ein Leben quasi „auffächert“ und viele Emotionen transparent macht, lässt niemanden kalt. Auch wie sich Menschen im familiären oder sozialen Netz gegenseitig tragen und selbst in Momenten des größten Schreckens und Chaos noch Kraft entwickeln, lässt einen demütig werden. Und noch ein Eindruck aus Einsätzen bewegt nicht nur Zahradnik nachhaltig: „Ich merke häufig, dass Menschen uns vertrauen und sich öffnen, obwohl es ihnen anfangs vielleicht unangenehm ist, dass wir hinzukommen. Mir geht es sehr nahe, wenn man spürt, dass die Betroffenen das Gefühl von ‚Ihr tut mir gut‘ nicht aussprechen können, aber anderweitig zum Ausdruck bringen.“ Erfahrungen, die auch die Autorin selbst schon gemacht hat – wenn zum Beispiel nach dem Überbringen einer Suizidnachricht und intensiven Gesprächen mit der Schwester des Verstorbenen zum Abschied eine spontane Umar- mung erfolgt und man mit den Worten „Sie sind ein guter Mensch“ verabschiedet wird. Überbordende Verzweiflung, Fassungslosigkeit oder auch Wut gemeinsam auszuhalten und einfach nur für die vom Tod eines Menschen betroffene Person da zu sein und sie in den ersten, dunkelsten Stunden nicht allein zu lassen, gehört zum Alltag eines jeden Notfallseelsorgers – und ist doch häufig nur schwer zu ertragen. Mitzuerleben, wie sich das Leben der Betreuten von einer Sekunde auf die andere auf den Kopf stellt, alle Pläne zusammenbrechen und tiefe Wunden entstehen, die nie verheilen werden, ist unglaublich bedrückend. Eltern eines tödlich verunglückten Jugendlichen erklären zu müssen, dass ihr Kind nicht mehr wiederkommt, und gleichzeitig zu wissen, dass es dafür keine „richtigen“ oder gar tröstenden Worte geben kann, bringt daher auch erfahrene Kräfte an ihre Belastungsgrenze. Oft wird man dann mit Schuld- oder Sinnfragen konfrontiert, auf die man zumeist selbst keine Antwort findet, und so muss man mit der eigenen Hilfund Sprachlosigkeit fertig werden. Wer zudem schlimmen Bildern eines Unfalls oder Suizids begegnet ist, den trifft die volle Wucht des Schmerzes der Angehörigen umso härter. „Das führt an existenzielle Fragen und konfrontiert mit eigenen Baustellen. Solche beklemmenden Eindrücke müssen gut verarbeitet werden, um langfristige Belastungsfolgen zu vermeiden“, weiß Christine Zahradnik. Intensive Nachgespräche sind für sie der Schlüssel, um einen Einsatz abschließen zu können; in strukturierten „Debriefings“ werden sowohl Fakten als auch emotionale Aspekte ausgetauscht und darauf hingewiesen, was jeder Notfallseelsorger für sich tun kann: „An erster Stelle stehen der Schutz und die Selbstfürsorge der eigenen Kräfte.“ Weitere Informationen unter: www.nfs-mtk.de Christine Zahradnik (r.) und Stephanie Kreuzer (l.) in der lila Jacke – dem Erkennungszeichen der Notfallseelsorge, nicht nur im MTK.
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