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MAINfeeling Sommer 2022

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ISS WAS?! SEI LEICHT! SO

ISS WAS?! SEI LEICHT! SO LAUTET DER KATEGORISCHE IMPERATIV UNSERER ESS-DEKADE. ABER DAS EWIGE STREBEN NACH DEM VERMEINTLICHEN IDEALGEWICHT MACHT UNS NICHT SCHLANKER, SONDERN IST VOR ALLEM EIN ZUNEHMEND ENTSETZLICHES TERRORINSTRUMENT. Von Constanze Kleis Foto: Adobe Stock @ StudioDFlorez

STORY 17 Wenn Melanie Bahlke sagt „ich weiß, was du denkst!“, hat das weniger mit telepathischen Fähigkeiten, als vielmehr mit Erfahrungswerten zu tun. Wann immer die 46-Jährige aus Kelsterbach unterwegs ist, steht den Menschen um sie herum in Leuchtbuchstaben auf der Stirn geschrieben, was ihnen durch den Kopf geht. Nämlich: „Wow, ist die fett!“. „Manchmal platzt ihnen auch ein ‚oh Gott‘ raus. Dann sage ich: Sie können mich ruhig Melanie nennen!“ Das könnte lustig sein, wäre es nicht unglaublich traurig, dass das Gewicht alles überstrahlt, was jemand sonst noch an großartigen Eigenschaften mitbringen könnte. Dass immer alle gleich zu wissen glauben, wie der Mensch gestrickt ist, der da in diesem adipösen Körper steckt. Nämlich ein stets lustiges, aber leider sehr träges Dickerchen, das sein Leben nicht im Griff hat. EINE HOFFNUNG, DIE EBENSO ALT IST WIE EBEN DIESE IDEE EINER BESTFORM Dabei hat Melanie Bahlke in ihrem Leben schon weitaus mehr Disziplin aufgebracht, hat mehr Diäten gemacht, häufiger gedarbt als die allermeisten Frauen. Und zwar seit ihrem achten Lebensjahr. „Ich war ein stämmiges Kind in einer Familie voller Übergewichtiger und meine Mutter wollte nicht, dass ich auch so werde, also ließ sie mich Diät halten.“ Melanie lernt: Essen ist gefährlich. Man muss sich vor ihm in Acht nehmen. Es kann einen überwältigen. Besonders dann, wenn man dauernd Dinge vorgesetzt bekommt, die einem nicht schmecken und bloß aus dem einen Grund, weil sie angeblich nicht dick machen. Dann muss man einfach irgendwann dringend raus aus diesem Korsett der Entbehrungen. Mit dem besten aller Fluchthelfer: Essen. Es steht zuverlässig immer zur Verfügung. Ist großzügig. Tröstlich. Es interessiert sich nicht dafür, wie man aussieht, es umschlingt einen immer. Zu jeder Zeit. Man isst. Ist verzweifelt. Nimmt ein wenig ab und sehr viel mehr wieder zu. Man hasst sich dafür. Man schämt sich. Dann muss man sich wieder trösten. Dann ist sowieso alles egal. So bringt man irgendwann zweihundert Kilo auf die Waage und kann Gedanken lesen. Nichts kann einem das Leben und den Körper so schwer machen, wie leicht sein zu sollen. Man könnte auch sagen „diets are forever“. Gerade weil sie nicht funktionieren. 95 Prozent der Menschen, die gewollt, auf welche Art und Weise auch immer, Gewicht verlieren, haben die verlorenen Kilos oder mehr spätestens nach fünf Jahren wieder drauf. „Ein Fakt, der,“ so die britische Therapeutin und Journalistin Susie Orbach, „eigentlich in das Bewusstsein jedes Diäters gehört.“ Aber da sind alle Plätze schon von der Hoffnung besetzt, dass es irgendwann doch noch ein „Wundermittel“ geben wird. Irgendeinen einfachen Trick, der dafür sorgt, dass wir in Bestform kommen. Obwohl wir eigentlich wissen, dass der Weg so steinig ist oder gerade deshalb: Weniger essen, als man verbraucht. Da muss es doch etwas anderes geben, denkt man sich. Etwas, das einem praktisch keinen Verzicht abverlangt, satt macht und lecker ist, aber trotzdem für rasante Abspeckerfolge sorgt. Eine Hoffnung, die ebenso alt ist wie eben diese Idee einer Bestform – in die wir alle passen sollen. Deshalb aßen unsere Mütter monatelang bloß hartgekochte Eier, ein anderes Mal sollte ausschließlich Hummer die Gewichtswende bringen (was ohnehin für die meisten Durchschnittsverdiener auf Null-Diät hinauslief). Es gab Hoch-Zeiten für Glyx-, New-York-, Brigitte-, Blutgruppen-, Atkins-, Hollywood- oder Paleo-Diät und dann sollte man auch noch einfach „schlank im Schlaf“ werden können, um nur ein paar von den insgesamt mehr als 70 000 Pfaden zum vermeintlichen Schlankheitsparadies zu nennen, die allein Amazon mit dem Suchwort „Diät“ listet. Noch nicht gezählt all die InfluencerInnen, die einem via YouTube und Instagram jeweils ihre eigene – natürlich kostenpflichtige – Abkürzung zum Dünnsein versprechen. Dort heißt es allerdings nicht mehr „Diät“, sondern ‚„Ernährungsumstellung“. Das klingt erstens so, als hätte man es eigentlich nicht nötig abzuspecken und zweitens ziemlich vernünftig. Allerdings erfüllt der Verzicht auf so ziemlich alles, was man ziemlich lange ganz schön lecker fand, streng genommen natürlich auch alle Kriterien einer „Diät“. Mit den entsprechenden Risiken. Orthorexia nervosa nennt sich der Zwang, sich gesund zu ernähren. „Orthos“ kommt aus dem Griechischen und heißt „richtig“ und „orexis“ bedeutet „Appetit“. Im Prinzip trägt dieses Essverhalten auch alle Züge einer Diät: Es gibt ein „Gut“ und ein „Böse“. Eine Vernunft und eine Verlockung. Auch hier werden Sünden begangen, sind Scham und Reue mit im Spiel. Gesunde Ernährung wird „der Mikrokosmos, um den sich alles dreht“, so das Deutsche Ernährungsforum. Und macht alles nur noch schlimmer. Wir werden ja alle nicht dünner, sondern im Gegenteil immer dicker. Und Spaß macht es außerdem überhaupt keinen. Frei nach Kästner: „Entweder man lebt, oder man isst konsequent.“ 2020 KAM DIE DIÄTINDUSTRIE GESCHÄTZT AUF EINEN UMSATZ VON 423 MILLIARDEN DOLLAR Wie wäre es mit Entspannung? Mit einer realistischen Kosten-Nutzen-Rechnung? Mit Vernunft? Wer nicht schon von Natur aus schmal gedacht ist, der muss – um sich den Fettanteil eines Schlittenhundes dauerhaft zu sichern – in einem der reichsten Länder der Welt jeden Abend ein wenig hungriger ins Bett gehen. Weil sich der Stoffwechsel darauf einstellt, selbst das Bisschen, was man ihm noch gönnt, maximal auszuwerten. „Denkt an all die Frauen, die auf der Titanic beim Dessertwagen abgewinkt haben“, beschrieb die amerikanische Kolumnistin Erma Bombeck einmal den Irrsinn. Und wozu? Falls ein Traumprinz vorbeigeritten kommt und sagt „also mit Konfektionsgröße 42 hätte ich hier nicht geklingelt, aber nun hörte ich deinen Magen knurren und dachte: Die nimmst du mit!“.