IM VERHÖR 6 | 7 ALAIN ALTINOGLU IST 1975 IN PARIS GEBOREN UND GILT ALS EINER DER WICHTIGSTEN DIRIGENTEN SEINER GENERATION. SEIT DER SAISON 2021/22 IST ER CHEFDIRIGENT DES RENOM- MIERTEN HR-SINFONIEORCHESTER FRANKFURT, GLEICHZEI- TIG DIRIGIERT ER REGELMÄSSIG DIE GROSSEN (OPERN-)- ORCHESTER DER WELT, IST SEIT 2016 MUSIKDIREKTOR AM BRÜSSELER „THÉÂTRE ROYAL DE LA MONNAIE“. ER IST MIT DER MEZZOSOPRANISTIN NORA GUBISCH VERHEIRATET, DAS PAAR HAT EINEN SOHN. Interview: Julia Söhngen und Tim Wegner (Fotos) ALLEIN DIE ORCHESTER AUFZUZÄH- LEN, DIE SIE LEITEN, WÜRDE HIER DEN RAHMEN SPRENGEN. WIE LEICHT FÄLLT ES IHNEN, SICH JEWEILS ZURECHTZU- FINDEN? Jedes Orchester ist anders, hat einen anderen Klang, setzt sich aus den unterschiedlichsten Menschen, also Charakteren, zusammen und erhält dadurch seine besondere Note. Das macht es so spannend und abwechslungsreich, das inspiriert mich und fordert mich gleichzeitig natürlich heraus, denn ich bin es ja, der aus all diesen Individuen eine Einheit formen möchte. Egal, wo ich bin, zunächst höre ich einmal zu. Auch ist es mein Ziel, die Musikerinnen und Musiker bei ihren Namen zu kennen und dadurch eine persönliche Bindung aufzubauen, denn nur gemeinsam können wir etwas erreichen. Ich spreche also nicht die erste Flöte an, sondern beispielsweise Clara (Andrada, Anm. der Redaktion) oder Sebastian (Wittiber). Aber am Ende sind wir alle Vollblutprofis, die Musiker ebenso wie ich. Wir wissen, was wir tun, und wollen gemeinsam etwas erarbeiten. Wir brauchen gegenseitiges Vertrauen für und in unserem Beruf. SIE DIRIGIEREN SINFONIE- UND OPERN- ORCHESTER GLEICHERMASSEN, WARUM? Wenn ich nur das eine machen würde, würde mir das andere fehlen. Opernorchester sind es gewohnt, mit den Sängern zu atmen, ihnen zu folgen und sind entsprechend flexibel im Tempo. In einer Sinfonie sucht man immer die genaue Klangfarbe. Diese beiden Wege zur Musik finde ich äußerst reizvoll. WO LIEGT DER UNTERSCHIED IM DIRI- GIEREN? In der Oper ist man als Dirigent ein Glied einer langen Kette: Es gibt den Regisseur, die Sänger, das Bühnenbild, Kostüme – die Oper ist ein Gemeinschaftswerk. Im Sinfoniekonzert steht der Dirigent buchstäblich im Mittelpunkt. WAS LIEBEN SIE AN IHREM BERUF? WAS MÖGEN SIE NICHT? Normalerweise würde ich auf diese beiden Fragen die gleiche Antwort geben: das Reisen. In Vor-Corona- Zeiten war ich manchmal so viel unterwegs, dass ich gar keine Zeit hatte, die Stadt kennenzulernen, in der ich gerade war. Mein Zeitplan war so dicht und getaktet, dass ich direkt weiter musste. Dabei liebe ich es, Städte zu entdecken, in Museen zu gehen, durch die Straßen zu laufen, ganz egal, wo ich gerade bin. Zumal, wenn es Dirigate in Städten sind, in denen Komponisten gelebt haben. Ich finde es wichtig, ihren Spuren zu folgen. So erhalte ich eine Vorstellung davon, warum etwa ein Beethoven so komponiert hat, wie er komponiert hat. Während Corona war auf einmal alles anders. Als der Lockdown kam, hatte ich von heute auf morgen plötzlich ganz viel Zeit und war zu Hause in Paris. Das war auf gewisse Weise schockierend. Gleichzeitig habe ich mich gefreut, dass ich so viel Zeit mit meiner Frau und meinem Sohn verbringen durfte. Ich habe auch Paris, die Stadt, in der ich geboren wurde, völlig neu kennengelernt. Es gibt Vogelgezwitscher in Paris! Unglaublich, vor meinem Fenster! Ich weiß nicht, ob ich das zuvor schon einmal bewusst wahrgenommen habe. Das war auf jeden Fall sehr interessant. In dieser Zeit habe ich mir sehr viele Gedanken über meinen Beruf gemacht. Ich habe mich etwa gefragt, ob es eigentlich notwendig ist, so viel unterwegs zu sein ... Aber als Musiker tut man etwas für andere Menschen, der direkte Kontakt ist also nötig und wichtig. Ich brauche die Reaktion des Publikums. Und das Erschreckende ist, dass eine Konzerttournee durch Japan weniger CO2 verbraucht als ein Livestream für 100 000 Menschen! SIE UNTERRICHTEN AUCH DIE DIRI- GIERKLASSE AM PARISER KONSER- VATORIUM, OHNE SELBST DIRIGIEREN STUDIERT ZU HABEN. WAS MACHT EINEN GUTEN DIRIGENTEN AUS? Ja, das stimmt, ich habe keinen Dirigierunterricht gehabt, aber ich bin auch kein Autodidakt. Ich war Korrepetitor und habe viel von anderen gelernt etwa von Pierre Boulez, den ich persönlich gekannt habe, und ich habe sehr viel über das Dirigieren gelesen. Talent ist nicht schlecht, und wenn man ein gewisses Maß an Charisma hat, schadet das sicherlich auch nicht, ebenso wenig wie Humor. Im Ernst: Beim Dirigieren kommt sehr viel zusammen. Gestik, Empathie, Kunstgeschichte, Musikgeschichte, Analyse, Psychologie, denn schließlich geht es ja auch darum, die Musiker dazu zu bringen, dass sie die Zeichen, die man als Dirigent gibt, umsetzen. Diese hochkomplexe Kombination macht den Beruf für mich so interessant.
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